Unsere Arbeitswelt befindet sich im ständigen Wandel: veränderte Lebensweisen und Geschäftsmodelle sowie die Digitalisierung haben zur Folge, dass sich heute rund 40% der Beschäftigten entweder in einem atypischen Arbeitsverhältnis befinden – ohne unbefristeten Vollzeitarbeitsvertrag – oder selbstständig sind. Vergangenen Donnerstag hat sich der Bundestag diesem Thema angenommen und einem Gesetzesentwurf der Bundesregierung für einen besseren Zugang zum Sozialschutz für Arbeitnehmer und Selbstständige zugestimmt. Er wurde auf Grundlage einer Empfehlung des Europäischen Rates im Dezember 2018 initiiert: im Einklang mit Grundsatz 12 der sozialen Säule europäischer Rechte soll den Mitgliedsstaaten eine Richtung vorgegeben werden, wie insbesondere Selbstständige, die nicht durch ihre Beschäftigung abgesichert sind, besseren Sozialschutz erhalten.
EU-Empfehlung: formale Lücken bei der Sozialsicherung schließen
Die EU-Empfehlung sieht vor, formale Lücken bei der Absicherung zu schließen, um Arbeitnehmern ohne unbefristeten Vollzeitarbeitsvertrag sowie Selbstständigen die Möglichkeit zu bieten, Sozialversicherungssystemen beizutreten. Außerdem sollen Maßnahmen getroffen werden, damit Betroffene angemessene Sozialschutzansprüche aufbauen und nutzen können. Des Weiteren sollen Sozialversicherungsansprüche von einem Arbeitsplatz zum nächsten leichter übertragen werden und Arbeitnehmer und Selbstständige klar über ihre Ansprüche und Pflichten informiert werden.
Der Vorschlag des Europäischen Rates ist laut Bundesregierung jedoch rechtlich nicht bindend und begründet auch keine sozialpolitische Handlungsverpflichtung. Der Gesetzesentwurf, der vergangenen Donnerstag angenommen wurde, bewirkt nur, dass der deutsche Vertreter im Rat der Empfehlung zustimmen darf. Trotzdem hat er unter Experten eine kontroverse Debatte ausgelöst.
Deutsche Rentenversicherung: Empfehlung „weitgehend in den geltenden gesetzlichen Regelungen umgesetzt“
Keine Probleme sieht die Deutsche Rentenversicherung in der Empfehlung: Die Vorschriften seien bereits weitgehend in den geltenden gesetzlichen Regelungen umgesetzt. Auch Professor Ulrich Becker vom Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik gibt Entwarnung: es gehe nicht darum, Kompetenzen auf EU-Ebene zu übertragen, sondern gemeinsam in den EU-Mitgliedstaaten sozialpolitische Maßnahmen zu ergreifen – dazu gehöre auch die bessere soziale Absicherung von Selbstständigen.
Bundearbeitsminister Heil kündigt Gesetzesentwurf zur Altersvorsorgepflicht an
Die Bundesregierung unterstützt ebenfalls die EU-Empfehlung: Bundearbeitsminister Hubertus Heil plant noch dieses Jahr einen Gesetzesentwurf vorzulegen, der Selbstständige in das Altersvorsorgesystem einbezieht. Dies ist auch als konkretes Ziel im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD festgelegt. Sind Selbstständige nicht bereits anderweitig abgesichert, sollen sie künftig zwischen der gesetzlichen Rentenversicherung und anderen geeigneten Vorsorgearten wählen können.
Kritische Stimmen von Arbeitgeberseite
Kritisch zu sehen ist laut dem Einzelsachverständigen Professor Gunnar Beck insbesondere die formale, nicht-rechtliche Verbindlichkeit der Empfehlung: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) habe schon mehrfach Empfehlungen als „Soft Law“ zur Urteilsbegründung herangezogen. Laut Beck handle die EU-Kommission nach dem Motto: Regt sich kein Widerstand, ist der Weg frei für einen bindenden Gesetzentwurf.
Auch von Arbeitgeberseite werden kritische Stimmen laut: Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) sieht bei einigen Vorschlägen das Risiko, dass in nationale Sozialsysteme eingegriffen werde. Dies verstoße gegen das Subsidiaritätsprinzip, so die Vertreterin der BDA. Eine geringfügige Beschäftigung dürfe keinen vollumfassenden Krankenversicherungsanspruch auslösen, da dies die Gesamtheit der Beitragszahler zu stark belasten und die Tragfähigkeit des Systems bedrohen würde. Problematisch sei auch der geschaffene Überwachungsrahmen, der im Widerspruch zum nicht rechtsverbindlichen Charakter der Empfehlung stehe.
Auch der Bundesverband mittelständische Wirtschaft (BVMW) spricht sich gegen ein europaweites Sozialsystem aus: Die EU sollte sich statt der Einführung neuer Bürokratieungetüme besser mit der Vereinfachung bestehender Gesetze wie der komplizierten Entsenderichtlinie befassen, fordert der BVMW in seinem Unternehmerprogramm des Mittelstandes zur Europawahl 2019. Außerdem solle sich die Union vorrangig solchen Themen annehmen, die dringend einer internationalen Regelung bedürfen, wie beispielsweise im Bereich der Handels-, Sicherheits- oder Migrationspolitik.