Mehr als 150.000 Menschen haben nach Angaben der Veranstalter am vergangenen Wochenende in Berlin gegen die geplanten Freihandelsabkommen TTIP, CETA und TISA demonstriert. Offizielle Quellen sprechen von immerhin 100.000 Teilnehmern. Zur Erläuterung: TTIP steht für Transatlantic Trade and Investment Partnership und bezeichnet ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA; sein Pendant CETA (Comprehensive Economic and Trade Agreement) ist ein entsprechendes Abkommen zwischen der EU und Kanada; TISA (Trade in Services Agreement) schließlich benennt ein Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen zwischen 23 Parteien einschließlich der EU und den USA. Kritiker befürchten, dass durch diese Abkommen europäische Sozial-, Umwelt- und Verbraucher-Standards gesenkt und demokratische Institutionen geschwächt werden. Befürworter hingegen argumentieren, dass durch den Wegfall von Zöllen und anderen Handelshemmnissen auf beiden Seiten des Atlantiks mehr Wirtschaftswachstum entsteht.
Aus Sicht des Mittelstands kann es eigentlich nur eine Position geben: Die Freihandelsabkommen müssen unterzeichnet, aber zunächst im Sinne der mittelständischen Wirtschaft fair ausverhandelt werden.
Freihandelsabkommen können Wachstum sichern
Denn für TTIP, CETA und TISA sprechen eine ganze Reihe von Argumenten. So weist BVMW-Präsident Mario Ohoven mit Nachdruck darauf hin: „Für die Exportnation Deutschland ist und bleibt Freihandel unverzichtbar.“ Beide Abkommen eröffnen dem Mittelstand seiner Ansicht nach beträchtliche Wachstumschancen und tragen zur Durchsetzung hoher Standards im weltweiten Handel bei. Wer das bestreite, ignoriere bewusst Fakten, wie zum Beispiel die positive Exportentwicklung durch das 2011 abgeschlossene Freihandelsabkommen der EU mit Südkorea, so Ohoven. „So lag die deutsche Warenausfuhr nach Südkorea im ersten Halbjahr 2015 um mehr als 50 Prozent über dem Niveau vor Inkrafttreten des Abkommens.“
Doch wie können mittelstandsfreundliche Freihandelsgesetze aussehen? Ein wichtiges Manko wurde in den vergangenen Monaten so stark thematisiert, dass es inzwischen sogar von der EU-Kommission als Verhandlungsposition für die weitere Ausgestaltung der TTIP-Verträge übernommen wurde: Die Rolle der Schiedsgerichte, die Investor-Staat- Klagen regeln sollen. Solche „unabhängigen“ Schiedsgerichte gibt es bereits für andere Freihandelsabkommen. Ursprünglich sollten sie auch bei den aktuell anstehenden Abkommen wie üblich mit Privatpersonen besetzt werden, worin Kritiker ein „paralleles Rechtssystem“ im Entstehen sehen, das von einer Lobby aus Freihandels-Beratern kontrolliert werde. Die Schiedsgerichte bestehen in aller Regel aus drei von den Streitparteien ernannten Privatpersonen und tagen geheim. Ihr Schiedsspruch ist bindend, eine Revision ist also nicht möglich. Tatsächlich sind Investor-Staat-Klagen auch ein Riesengeschäft! Eine UN-Studie aus dem Jahr 2012 weist nach, dass nur drei Anwaltskanzleien 130 Schiedsverfahren und nur 15 Anwälte 55 Prozent aller Schiedssprüche im Jahr 2011 verantwortet haben. Darüber hinaus weist die Studie auch nach, dass in 70 Prozent alle Fälle zugunsten der beteiligten Konzerne entschieden wurde. Die OECD beziffert in einer Untersuchung die durchschnittlichen Verfahrenskosten auf rund acht Millionen Dollar – eindeutig zu viel für ein mittelständisches Unternehmen.
Vor dem Hintergrund dieser Fakten wird inwischen immer häufiger die Forderung nach Einrichtung eines öffentlichen Handelsgerichtshofs laut, der in Streitfragen als Schlichter fungieren soll – nicht zuletzt auf Initiative von Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel, der im Mai erklärte: „Private Schiedsgerichte wird es nicht geben“. Und das ist wie gesagt inzwischen auch die offizielle Position der EU-Kommission bei den Verhandlungen.
Vorsorge versus Nachsorge
Doch es gibt eine Reihe weiterer Stolpersteine auszuräumen auf dem Weg zu einem mittelstandsfreundlichen Freihandelsabkommen. Dazu gehört beispielsweise die Erhaltung von Standards im Verbraucherschutz. Der Mittelstand hat konkret Sorgen, seinen Mitbewerbern aus den USA künftig unterlegen zu sein. Denn in den USA müssen neue Produkte, anders als bei uns, nicht erst ausgiebig getestet werden bevor sie verkauft werden dürfen. US-Anbieter können so bis zu zweieinhalb Jahre früher auf den Markt als ihre deutsche Konkurrenz, und das mit allen verbundenen Risiken, die in den USA traditionell erst in anschließenden Klagen behandelt werden.
Kritisch wird bei TTIP auch ein Regulationsrat gesehen, in dem EU und USA alle wichtigen Gesetze vorab besprechen wollen. Kritiker fürchten, dass so US-Konzerne eine Art Vetorecht in der EU-Gesetzgebung bekommen könnten, und fordern deshalb eine Interessensvertretung des Mittelstands in diesem Gremium.
Bayern hat sich längst festgelegt
Bei allem Verhandlungsgeschick, das noch nötig sein wird, um die Freihandelsabkommen im Sinne des Mittelstands unter Dach und Fach zu bringen – über ihre Notwendigkeit ist man sich in Wirtschaftskreisen weitgehend einig. Auch Bayern, dessen Handelspartner Nummer Eins die USA sind, hat sich längst festgelegt. „TTIP stärkt den Wettbewerb und bringt den Verbrauchern Vorteile: niedrigere Preise und eine größere Produktvielfalt. Der exportstarke deutsche Mittelstand kann spürbare Umsatz- und Beschäftigungssteigerungen erwarten. Gerade Bayern mit einer Exportquote im verarbeitenden Gewerbe in Höhe von rund 51 Prozent profitiert besonders von TTIP“, so Wirtschaftsministerin Ilse Aigner im Mai im Bayernkurier.
Übrigens weist SPIEGEL ONLINE in einem Artikel vom vergangenen Wochenende auf die fragwürdige Koalition der TTIP-Gegner bei der Großdemo in Berlin hin. Neben Gewerkschaften und Umweltverbänden habe demnach auch Pegida-Chef Lutz Bachmann seine Anhänger in Dresden aufgerufen, sich an den Protesten zu beteiligen, die NPD sei dabei, der französische Front National und die bulgarischen Ultranationalisten. Auf amerikanischer Seite treiben bekanntlich die ultrakonservative Tea-Party-Bewegung und Donald Trump den Kampf gegen das Handelsabkommen voran. Es bleibt also weiter extrem wichtig, genau hinzusehen, mit wem man sich in welchem Zusammenhang solidarisch erklärt.
Die Deutsche Bundesregierung jedenfalls hält die Vorbehalte gegen TTIP für unbegründet, erklärte Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag nach der Demonstration. Europa habe damit eine „Riesenchance, weltweit Standards zu setzen“. Allerdings sehe das Wirtschaftsministerium noch Verbesserungsbedarf an den Plänen. Das klingt doch ganz gut!
Ihr
Achim von Michel
Herausgeber mittelstandinbayern.de