Was macht man eigentlich, wenn man von einem richtig wuchtigen Demo-Aufschlag in der deutschen Hauptstadt gegen die aktuellen Corona-Maßnahmen träumt, aber eigentlich ganz genau weiß, dass es dafür weder ausreichende Mehrheiten noch die notwendige Mobilisierung gibt? Aktuelle Befragungen belegen eindrücklich, dass bis zu 90 Prozent der Deutschen den Umgang mit der Pandemie richtig finden und sogar eine verschärfte Überwachung der bestehenden Corona-Regeln befürworten würden. Nun gut, da blieben theoretisch noch um die 10 Prozent übrig, aber das Problem einer breiten Mobilisierung besteht trotzdem. Wie viel praktischer wäre es, ganz gezielt ein Sammelbecken für alle möglichen, mehr oder weniger demokratisch legitimierten, aber bereits aktiven Randgruppen zu schaffen, die mit Corona erstmal nur eines gemeinsam haben: Sie alle nutzen dieselbe Plattform, dieselben Verkehrsmittel zur Anreise und dieselben Versammlungsorte für eine dann gar nicht mehr so kleine Demonstration ohne Masken und Abstand und mit ganz viel Freiheit.
Der ersehnte Sprung über die Wahrnehmungsschwelle
Und so lässt sich die breit angelegte Demonstration am 29. August in Berlin wohl auch am besten verstehen. 30.000 bis 40.000 Teilnehmer ist keine so ganz geringe Anzahl, wenngleich sie von den utopisch fabulierten 1,3 Millionen der ersten Demo von Anfang August immer noch astronomisch weit entfernt ist. Aber keine der überwiegend unter dem Deckmäntelchen von „Liebe und Wahrheit“ subsumierten Teilgruppen hätte mit ihren Anliegen wohl alleine den Sprung über die echte mediale Wahrnehmungsschwelle – also die so verhassten Mainstream-Medien – geschafft, oder gar in der Politik irgendwelche relevanten Reaktionen hervorgerufen. Social Media-Kanäle sind praktisch weil in der Regel sehr geduldig, aber wenn es um maßgeblichen „Impact“ geht, dann sind Medien mit echten Redakteuren, die eine echte Auswahlentscheidung zwischen relevant und irrelevant treffen, auch 2020 noch „der“ Aufmerksamkeits-Kanal. So erklärt sich übrigens auch die „Hass-Liebe“ vieler politischer Randgruppen zu diesen angeblichen Informationsmonopolen.
Der maßgebliche Treiber der beiden Demos im August, die Initiative Querdenken 711, scheint die wichtigsten Mechanismen eines erfolgreichen Zielgruppen-Marketing und entsprechender medialer Aufmerksamkeit durchaus verstanden zu haben. Und so präsentierte sich die Demo am Samstag mit vielfältigen Einladungen an eine ganz heterogene Klientel. Schon früh am Morgen war klar, dass die Teilnahme für eine gewaltbereite Gruppe von Hooligans und Extremisten vorrangig diesen Sinn ergab: Endlich mal wieder richtig Randale machen. Schließlich sind die Fußballstadien seit Monaten geschlossen, und diese beliebte Kampfzone fällt wohl auch noch lange aus. Und so war eine der ersten beunruhigen Twitter-Nachrichten auch tatsächlich jene von der Beobachtung einer zunächst noch kleinen Gruppe, die sich eifrig Boxer-Bandagen um ihre Fäuste wickelte. Sie sollte auf mehrere tausend Aktivisten anwachsen bis zum frühen Abend und in über 300 Festnahmen münden – Hauptschauplatz dabei die russische Botschaft, wo bereits am Vorabend vehemente Forderungen nach einem „Friedensvertrag“ für Deutschland skandiert wurden. Das ist zwar Unsinn, klingt aber einfach fundiert und „geschichtsträchtig“ – letzteres übrigens auch ein Wort, das bedeutungsschwanger durch die gesamte Bühnenmoderation des Tages mäanderte.
Vielfältig inszenierte Wahrheiten für alle Zielgruppen
Auch die vielen anderen Gruppen des Corona-Happenings kamen nicht zu kurz. Robert Kennedy Jr., ein umwelt-aktiver Neffe des berühmten „Ich bin ein Berliner“ US-Präsidenten John F. Kennedy, holte die versammelten 5G- und Nanochip-Gegner in durchaus weltmännischer Manier mit einer Hassrede gegen Bill Gates und die gesamte US Milliardärs-Clique ab. Für die anwesende Esoterik-Zielgruppe, die in Teilen schon länger mit dem QAnon-Verschwörungsbecken antichambriert, gab es eine meditative Gesangseinlage mit Yoga-Symbolik und Hippie-Feeling. Und vergesst die Mütter nicht: Frauen, die mit Maske gebären müssen, und dadurch nicht nur schwere Körperverletzung erfahren, sondern darüber hinaus sofort die weltweite Hilfe aller gerade verfügbaren Menschenrechtsorganisationen benötigen, um das schwere Unrecht an deutschen Kindern anzuprangern – auch sie fanden rhetorisch geschulte Fürsprecherinnen. Die brachten auch gleich noch ihre Kinder mit, die vorgefertigte Botschaften von zerknitterten Texten ablasen, um diesem Teil des Bühnenprogramms ein nachhaltig berührendes Gefühl zu geben. Überhaupt war „Gänsehaut-Feeling“ eine der wohl meistbenutzten Situationsbeschreibungen der Live-Kommentatoren in den Nicht-Mainstream-Kanälen. Da wirkte der eher nüchterne, und sicher auch von den meisten schon tausendmal gehörte Vortrag über die „Unwahrheiten“ der „Mainstream“-Virologen gegenüber der „Wahrheit“ eines ungefährlichen Coronavirus fast schon abturnend – eben gar nicht Gänsehaut-geeignet, sondern schnöde Auseinandersetzung mit der Pandemie. Das Kribbeln auf der Haut ist aber fester Bestandteil dieses Marketing-Plans, sei es durch die mehrfach mit tausenden Stimmen intonierte Nationalhymne, die von der Bühne gebrüllte „Tschüss, Frau Merkel“-Parole eines Heiko Schrang, oder das DJ-Posing des Moderators und anschließendem Deutschrap-Song – ein kurzes Exklusivkonzert für Zehntausende von der Hauptbühne, das übrigens so in Deutschland derzeit nirgendwo sonst erlaubt wäre. Und fertig ist das Multi-Marketing-Konzept für eine völlig heterogene Gruppe Andersdenkender auf der Suche nach einer wirklich großen Plattform. „Groß“ ist dabei ein Attribut, das allen sehr zu gefallen scheint, seien es die „Groß-Geber“ einer 100.000-Euro Spendenaktion, der „transatlantische Anschluss“ an eine US-Kinderstiftung, oder die dann doch immer wieder kurz aufblitzenden Schätzungen von einer, zwei oder gar acht Millionen Teilnehmern an diesem Tag. Nur Groß-Koch Attila Hildmann, der ebenfalls sehr gerne in beeindruckenden Metaphern redet, hat dabei irgendwie mal wieder die Abzweigung verpasst: er landet am späten Nachmittag – medial dokumentiert durch wenig schmeichelnde Pressebilder – kurzerhand in Polizeigewahrsam.
Niemand verhandelt erfolgreich mit Sars-Cov-2
30.000 oder auch etwas mehr werden es wohl wirklich gewesen sein, aber eine irgendwie relevante Anti-Corona-Front war es eben nicht – sondern nur eine geschickt eingesammelte Menschentraube großen Ausmaßes. Zukunft kann das kaum haben, dafür sind die ideologischen Gräben zwischen radikalen Extremisten, friedlichen Esoterikern und reinen Spaß-Demonstranten sicher auf Dauer zu groß. Was sie alle einen mag, ist der diffuse Wunsch nach irgendeiner Veränderung. Weshalb, wohin und wie – das bleibt im Dunklen. „Mehr Liebe und mehr Wahrheit“ ist so ziemlich das einzige, was dazu an Programmatik von der Bühne zu hören ist, wenn man mal von den an diesem Tag grundsätzlich konsensfähigen Krawall-Botschaften „Beschränkungen abschaffen“, „Widerstand“, „Lügenpresse“ und „Corona-Diktatur“ absieht. So muss diese Bewegung in sich sehr bald Frustration auslösen, denn sie kann nicht einmal im Ansatz liefern, was sie im Kern verspricht: einen politisch veränderten Umgang mit der Corona-Pandemie. Sars-Cov-2 lässt ohnehin nicht mit sich verhandeln, und 30.000, 50.000 oder sogar 500.000 Demonstranten stürzen auch keine Demokratie.
Bleibt nur zu hoffen, dass die Bewegung mit all ihren verschiedenen Teilgruppen schon bald das gleiche Schicksal erfährt, wie vielleicht auch das Coronavirus: Im Laufe der Zeit einfach weniger gefährlich zu werden und irgendwann ein gut beherrschbarer und nicht weiter aufregender Teil unseres Alltags. Auf einen Impfstoff zu hoffen, scheint nicht nur für Hinblick auf das Virus eine eher unsichere Angelegenheit zu sein.