Direkte Wege der Bürgerbeteiligung durch Volksabstimmungen, Bürgerinitiativen oder Bürgerdialoge stärken die repräsentative Demokratie. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Bertelsmann Stiftung in Kooperation mit der Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg, die erstmals deutschlandweit repräsentativ die Wirkung von Bürgerbeteiligung auf die Demokratie untersucht hat.
Mitentscheiden und Mitmachen sind den Deutschen inzwischen genauso wichtig, wie zur Wahl zu gehen. Besonders groß ist der Nachholbedarf bei direktdemokratischen Verfahren: Zwei Drittel aller befragten Bürger möchten mehr Entscheidungen selber treffen. Die befragten Politiker hingegen wollen mehrheitlich ihre Entscheidungen nicht direkt vom Bürgerwillen abhängig machen. „Die Erwartungen der Bürger an demokratische Mitbestimmung haben sich verändert. Wählen alleine reicht ihnen nicht mehr. Unsere Demokratie muss deshalb vielfältiger werden“, sagt Robert Vehrkamp, Direktor des Programms „Zukunft der Demokratie“ der Bertelsmann Stiftung.
Die jüngst veröffentlichte Untersuchung zeigt: Die verschiedenen Möglichkeiten politischer Mitwirkung schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern stützen einander und tragen insgesamt zur Stärkung der Demokratie bei. „Wählen, Mitmachen und Entscheiden sind für die Bürgerinnen und Bürger breit akzeptierte Formen der Beteiligung, die sich ergänzen“, so Gisela Erler, Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg. Wer sich an Bürgerentscheiden oder -dialogen beteiligt, geht mit höherer Wahrscheinlichkeit auch zur Wahl und umgekehrt. Die repräsentative Demokratie wird durch neue Wege der Bürgerbeteiligung nicht geschwächt, sondern aufgewertet: Jeweils drei Viertel der befragten Bürger und Politiker (77,2 Prozent) sind davon überzeugt, dass durch Bürgerbeteiligung nicht nur die Interessen Einzelner, sondern unterschiedliche Interessen und Wertvorstellungen in die politischen Entscheidungen einfließen. Bürgerbeteiligung verhindert außerdem Fehlplanung und Fehlinvestitionen, so die Überzeugung von mehr als 68 Prozent der Bürger und 62,5 Prozent der Politiker. Insgesamt sind 79 Prozent der Bürger der Meinung, dass durch Bürgerbeteiligung neue Ideen in den Planungsprozess einfließen. Auch drei Viertel (75 Prozent) der Politiker teilen diese Einschätzung.
Bürgerbeteiligung stärkt darüber hinaus die demokratischen Kompetenzen, zum Beispiel Politikinteresse und allgemeines politisches Wissen. Sie fördert außerdem die Akzeptanz von politischen Entscheidungen: 66 Prozent der befragten Bürger sind eher bereit, Ergebnisse zu akzeptieren, mit denen sie inhaltlich nicht einverstanden sind, wenn sie vorher gehört worden sind und die Möglichkeit zur Mitsprache hatten. „Mit dem Vorurteil, dass mehr Bürgerbeteiligung der Demokratie schade, räumt die Studie auf. Ich hoffe, dass nun noch mehr Länder und Kommunen Bürgerbeteiligung fest in ihre politische Arbeit verankern“, sagt Erler.
Die Deutschen geben in ihrem Demokratieverständnis keiner Beteiligungsform klar den Vorrang, sondern bewerten Wählen, Mitentscheiden und Mitmachen fast gleichrangig: 82 Prozent finden die Beteiligung an Wahlen (sehr) gut, 80 Prozent die Einflussnahme über Bürgerbegehren und -entscheide und 79 Prozent das Engagement in Bürgerinitiativen. Die meisten Bürger (69 Prozent) möchten mehr und direkter über politische Sachverhalte mitentscheiden: Sie wünschen sich ein größeres Angebot an direkt-demokratischen Verfahren wie Bürgerbegehren und -entscheide. Während die überwiegende Mehrheit der befragten Politiker (etwa 80 Prozent) ihr Mandat frei und unabhängig von konkreten Bürgerpräferenzen versteht – im Zweifel also auch gegen die Bürgermehrheit entscheiden würde – finden das nur halb so viele (rund 43 Prozent) der Bürger richtig. „Die Bürger wollen durch Wahlen ihre politische Mitbestimmung nicht für vier Jahre komplett aus der Hand geben. Politiker sollten diesen Wunsch nach mehr direkter Demokratie und Dialog ernst nehmen und ihr repräsentatives Mandat entsprechend offen interpretieren“, so Vehrkamp, der die Studie geleitet hat.
Methodik und Hintergrund der Studie
Die Studie führte die Bertelsmann Stiftung gemeinsam mit ihrem Kooperationspartner, der Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg, sowie einer wissenschaftlichen Steuerungsgruppe durch. Zu der Steuerungsgruppe gehören: Prof. Dr. Ulrich Eith, Dr. Rolf Frankenberger, Prof. Dr. Brigitte Geißel, Prof. Dr. rer. Pol. Oscar W. Gabriel, Prof. Dr. Norbert Kersting und Prof. Dr. Roland Roth.
Den Kern der Studie bildet die erste umfassende empirische Untersuchung zu den Wirkungen von Partizipation auf die Demokratie in Deutschland. Teilgenommen haben bundesweit 27 Kommunen, in denen jeweils erstens ein persönliches Interview mit dem Bürgermeister, zweitens online/telefonische Befragungen der Ratsmitglieder sowie von jeweils drei Verwaltungsspitzen und drittens telefonische Befragungen von jeweils 100 Bürgern durchgeführt wurden. Die Befragung fand im zweiten Halbjahr 2013 statt, die Auswertung des umfangreichen Datenmaterials im ersten Halbjahr 2014. Die bundesweiten Aussagen beziehen sich auf die Gesamtstichprobe von 2.700 Bürgern und sind somit repräsentativ für Deutschland. Mit der Durchführung war das renommierte Institut aproxima, Gesellschaft für Markt- und Sozialforschung, aus Weimar betraut. Ergänzend wurden in Expertengutachten die Formen und Wirkungen von Partizipation in den deutschen Bundesländern sowie in vier internationalen Fallstudien (Schweiz, Österreich, Kanada und Brasilien) untersucht.
Die Kernergebnisse der Studie zum Download sowie weiteres Hintergrundmaterial finden Sie HIER.
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1 Kommentare
Ich saß mit Winfried Kretschman, Gisela Erler und Boris Palmer in einem 25 Jahre alten Kleinwagen und raste auf eine solide Betonwand zu. Vor Angst laut schreiend forderte ich, sofort den Wagen zu stoppen und umzukehren.
Kretschmann saß lächelnd am Steuer und beschied mir, dass dies leider nicht gehe. Eine Mehrheit aus Schrotthändlern und Betonsanierern habe beschlossen, dass er die Betonwand mit diesem Wagen zu durchbrechen habe. Außerdem müsse ich auch gar keine Angst haben. Ein Gutachter besagter Mehrheit habe für viel Geld detailliert und kompetent dargelegt, dass der Wagen das schaffe. Meinem Einwand, dass dies entweder eine glatte Lüge oder der Gutachter ein kompletter Versager sei entgegnete er: „Vermutlich beides. Aber dieses Projekt ist über eine klare Mehrheit demokratisch legitimiert. Und in einer Demokratie zählen eben Mehrheiten und keine Wahrheiten.“ Und Boris Palmer sekundierte:“ Diesen Fehler müssen wir jetzt eben machen.“
„Müssen wir nicht!“, schrie ich panisch und versuchte, Kretschmann ins Steuer zu greifen. Aber Gisela Erler hielt mich zurück und nannte mich einen egoistischen Undemokraten. Schließlich habe sogar eine Mehrheit der Bevölkerung dafür gestimmt, dass wir die Betonwand rammen. Mein Argument, dass die Mehrheit dieser Leute offensichtlich auf Lügen hereingefallen sei und zudem auch nicht in diesem Auto säße verwarf sie abschätzig. Die Argumente im Vorfeld der Abstimmung seien so eindeutig gelogen gewesen, dass selbst dem dümmsten Wähler habe auffallen müssen, dass es sich um Lügen handelte. Der Wähler wolle also belogen werden. Kretschmann und er hätten lediglich diesen Willen erfüllt. Das sei gelebte Demokratie. Ungläubig fragte ich in die Runde, ob die drei tatsächlich bereit seien, ihr Leben für ein verlogenes Betrugsprojekt zum Nutzen weniger Profiteure zu opfern. Milde lächelnd ob meiner Naivität beschieden mir alle drei unisono: „Natürlich nicht!“ Und Winfried ergänzte: „Wir werden in Kürze mit dem Schleudersitz in ein wesentlich komfortableres Fahrzeug befördert, das in eine deutlich rosigere Zukunft fährt. Ihnen aber wünschen wir weiterhin eine gute Fahrt und viel Glück.“ Dann schossen sie sich nach oben aus dem Fahrzeug heraus und ich wachte schweißgebadet auf. Tiefe Erleichterung durchströmte meinen Körper. „Was für ein Albtraum“, dachte ich und mein Blick fiel auf einen Zeitungsartikel über Stuttgart21. „Was für ein Albtraum!“