Um es gleich vorwegzunehmen: ich bin der Bundesregierung höchst dankbar, dass sie im Frühjahr 2020 den ersten Lockdown ausgerufen hat. Zutiefst verstörende Bilder aus China, erschreckende Szenarien direkt bei unseren Nachbarn in Italien – das und vieles andere sah überhaupt nicht vertrauenerweckend aus, und das Wissen um Corona und seiner Gefährlichkeit war zu diesem Zeitpunkt nahe Null. Richtig gehandelt, schnell gehandelt, gut gehandelt.
Ein wenig anders sehe ich es schon beim zweiten Maßnahmenpaket, das uns nach einem einmonatigen „Wellenbrecher-Lockdown“ schlussendlich in acht Monate weitgehenden Stillstand allen gesellschaftlichen Lebens geführt hat. Wiederum geht es auch hier nicht darum, die Gefährlichkeit des Corona-Virus anzuzweifeln. Corona ist real und hätte ohne geeignete Schutzmaßnahmen allein in Deutschland hunderttausende an Todesopfern gefordert. Nein, was damals sich begann Bahn zu brechen, war ein grundsätzlich „selbstverständlicherer“ Umgang mit Staatsmacht durch die Regierenden und ihrer ausführenden Organe. In einer Weise, wie sie Nachkriegs-Deutschland bisher noch nicht erlebt hat. Niemals werde ich SPD-Finanzminister Olaf Scholz vergessen, der in einer Talkshow im Oktober 2020 mit lockerer Handbewegung und gelassenem Spruch verkündete, es würde sich bei den beschlossenen Maßnahmen ja nur um einen 30-Tage-Lockdown im November handeln. An Weihnachten sei alles längst vergessen. Es kam bekanntlich anders, und natürlich war die Deltavariante, die zum damaligen Zeitpunkt noch niemand auf dem Pandemie-Schirm hatte, maßgeblich für die nicht enden wollende Verlängerung von Kontaktbeschränkungen verantwortlich. Und doch: es begann damals, dass politisch Handelnde die Situation auf einmal auch etwas sehr leichtnahmen, Ratschläge von Experten leichtfertig in den Wind schlugen, und sich in der vermeintlichen Sicherheit einer unproblematischen „Wellenbrecher“-Strategie zunehmend den einen oder anderen lockeren Spruch erlauben wollten. Schließlich war Deutschland ja so gut durch die erste Welle gekommen, und schließlich ist doch alles, was deutsche Politiker anpacken, automatisch ein Erfolgsmodell. Oder?
Kita-Kind Emilia fordert den Staat heraus
Gestern rief mich ein Kunde an, dessen Kleinkind in einer Kita betreut wird, in der es einen Coronafall gegeben hat. Das Kind, wir nennen es hier Emilia, wurde negativ getestet. Mein Kunde wollte nun Emilia nach fünf Tagen aus der Quarantäne testen lassen und kontaktierte hierzu das örtliche Gesundheitsamt – zeitgleich übrigens zu den ersten politischen Ankündigungen, es müsse in Schulen von nun an endlich „mit Augenmaß“ bei der Kontaktnachverfolgung vorgegangen werden, anstatt ganze Stätten aufgrund einer einzigen Corona-Infektion über Wochen zu schließen. Nun, das Gesundheitsamt sah es anders und ordnete 14 Tage strenge Quarantäne für Emilia an. Ohne Möglichkeit der Freitestung! Man könne gar nicht anders handeln, war die Begründung. Mein Kunde ging vor Gericht, und man ahnt schon, wie es ausging: Eilantrag abgelehnt, Emilia bleibt für die volle Zeit in Quarantäne. Was man unter anderem lernt in der, aus teilweise nicht einmal auf den konkreten Fall passenden Textbausteinen zusammengesetzten, Entscheidung: Kleinkinder verpassen keinen Unterricht und sind deshalb nicht so wichtig. Weil sie nicht so wichtig sind, werden sie nicht so oft getestet. Und weil sie nicht so oft getestet werden, sind sie eine Gefahr für Ungeimpfte. Und deshalb gehören sie im Zweifel ganz lang in Quarantäne! Diese Entscheidung ist gefallen vor dem Hintergrund einer Impfquote in Deutschland von über 60 Prozent und einer Pandemiesituation, in der jeder Bundesbürger ein Impfangebot wahrnehmen kann. „Augenmaß“, wie es auch einige Tage nach dem bayerischen Kabinettsbeschluss nochmals auf Bundesebene explizit betont wurde, ist hier für mich nicht erkennbar.
Der größte Schuft im ganzen Land
Der zweite Fall: Baden-Württemberg startet mit viel Getöse ein Denunzianten-Portal für Steuerhinterzieher. Angesichts rund 50 Milliarden Euro entgangener Einnahmen (2012 waren es übrigens interessanterweise noch geschätzte 100 Millionen Euro), sei dieser Schritt unabdingbar. Aber man wolle ja nur die „großen Fische“ belangen, dies sei das klare Ziel. Jeder, der sich mit Steuerrecht etwas auskennt, der weiß, dass das so einfach nicht stimmt. Wenn ein deutsches Finanzamt Kenntnis erlangt über eine mögliche Steuerstraftat, so ist es gesetzlich verpflichtet, diese auch zu ermitteln. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, wie groß der mögliche Fisch im Netz ist. Dem Bürger wurde das aber so nie kommuniziert. Zum Glück hat eine Umfrage am Tag nach der Vorstellung dieses fragwürdigen Spitzel-Portals ergeben, dass sich nur jeder Fünfte überhaupt vorstellen könnte, einen solchen Weg des Anschwärzens zu nutzen. Und zum Glück ist in der höheren Finanz- und Unternehmenswelt ja auch bekannt, dass beispielsweise die BaFin schon seit langer Zeit über solche Kommunikationskanäle verfügt, um tatsächlich auch die „großen Fische“ in der Hochfinanz zu fangen. Bei Wirecard hat das trotzdem nicht viel genutzt, man könnte also den Sinn solcher Whistleblower-Anreize generell hinterfragen. Jeder von uns zahlt schließlich Steuern – hoffentlich immer ordnungsgemäß – und möchte mit dieser Thematik so wenig zu tun haben, wie nur möglich. Leben und leben lassen eben.
Es ergibt sich ein Kernpunkt aus diesen Einzelfällen und dieser drängt sich zunehmend auf: der Staat hat aus anfänglicher Fürsorge – und ich betone nochmals: der erste Lockdown war nötig, richtig und gut umgesetzt – schrittweise ein Selbstverständnis für sich abgeleitet, das ihm schlichtweg nicht zusteht. Das alles könnte man vielleicht zurückdrehen, stünden nicht bereits die Klimaschützer am Spielfeldrand mit massiven Forderungen nach staatlichen Eingriffen zum Wohl der bedrohten Umwelt. Und nein, ich leugne an diesem Punkt nicht den Klimawandel und seine bereits deutlich sichtbaren Auswirkungen. Ich glaube nur absolut nicht, dass man Menschen auf Dauer mit „Zwangsbeglückungen“ vor ihrem Unglück bewahren kann. Klimabewusstsein muss letztlich bei jedem Bürger im Kopf und im Herzen entstehen, kann durch konkrete Anreize auch aktiv gefördert werden, und muss dort auch reglementiert werden, wo komplett unsinnige Geschäftsmodelle aufrechterhalten werden: den völlig unwirtschaftlichen Flug von Berlin über Mallorca nach München für 60 Euro (1.200 Kilometer) kann man sicher irgendwie verhindern. Aber sehr viel mehr auch schon nicht.
Symbolpolitik im Schilderwald
Die Einführung eines deutschlandweiten Tempolimits rettet von rund 400 Menschen, die noch immer jährlich auf deutschen Autobahnen versterben (von insgesamt rund 3.000 Verkehrstoten), wohlwollend geschätzt vielleicht 10 oder 20 Prozent – denn auch ein Frontalcrash mit 130 übermüdet auf der Autobahn oder im nebligen Stauende verläuft in den meisten Fällen tödlich, und verantwortungslose Raser wird es auch weiterhin geben. Die CO2-Ersparnis durch weniger Luftwiderstand bei geringerem Tempo wird nach Ansicht von Experten rund fünf Prozent betragen – nicht etwa des Gesamtverkehrsaufkommens, sondern nur des Aufkommens auf Autobahnen. Man könnte also überlegen, ob eine so riesige, reglementierende Maßnahme wie die Einführung eines deutschlandweiten Tempolimits überhaupt im Verhältnis zum positiven Ertrag steht. Sind es nicht vielmehr die Lieferverkehre in den Innenstädten, die durch ständiges Stop and Go, Behinderung des Verkehrsflusses und ineffiziente Lastenverteilung viel massivere Emissionsbelastungen verursachen? Und sind nicht die Radfahrer an den Kreuzungen, die viel zu häufig von abbiegenden LKW übersehen werden, die viel größere und schutzbedürftigere Gruppe, die übrigens auch schon seit Jahren um die bundesweite Einführung von Abbiege-Spiegeln an gefährdeten Kreuzungen kämpft? Das Tempolimit ergibt sich mit zunehmender Verbreitung von Elektrofahrzeugen jedenfalls von ganz allein, denn dann wird es immer mehr vor allem um eines gehen: Reichweite. Der „Bleifuß“ führt in Zukunft auf längeren Strecken zum garantierten Totalaufall, und wenn sich außerdem noch Konzepte des autonomen Fahrens durchsetzen, werden automatische Beschränkungen grundsätzlich eine Überforderung der sensiblen Steuermechanismen zu verhindern wissen.
Für mich sind es deshalb nicht die plakativen Symbole, die unser Klima retten. Es sind auch nicht die bis ins letzte Detail durchdeklinierten staatlichen Verordnungen, die eine Corona-Pandemie beenden. Und es sind nicht die letzten hinter dem warmen Ofen aufgespürten Steuerhinterzieher, die unseren Staatshaushalt retten. Das Einzige, was uns als Staat rettet, ist ein friedliches gesellschaftliches Klima, in dem das Credo „Leben und leben lassen“ weiterhin einen zentralen Stellenwert behält. Denn nur so kann wieder ein Zusammenhalt in der Gesellschaft entstehen, mit dem alle anstehenden Herausforderungen gemeinsam angepackt werden können.
Ihr
Achim von Michel